Was die Manosphere mit kollektivem Schmerz zu tun hat.
Ich begegne in letzter Zeit immer häufiger Inhalten, die der Manosphere entspringen. Falls du davon noch nie gehört hast: Die Manosphere ist ein wachsendes Netzwerk aus Online-Communities und Social-Media-Kanälen, in denen sich Männer (und vereinzelt auch Frauen) über Themen rund um Geschlecht, Beziehungen, Sexualität, Macht und Gesellschaft austauschen. Häufig aus einer misogynen und antifeministischen Perspektive.
In dieser Szene wird häufig von “echten Männern” gesprochen, und wie diese sich zu verhalten hätten, um im Leben erfolgreich zu sein. Härte, Stärke und Dominanz wird als Königsweg gepriesen.
Ich grenze meine Arbeit entschieden von der Manosphere ab. Und dennoch möchte ich hier auf etwas aufmerksam machen, das im öffentlichen Diskurs fast nie Beachtung findet: In diesen Männern tobt ein erbitterter Kampf. Ein Kampf um Kontrolle und Halt. Um Sinn und Orientierung. Und um die Frage: “Bin ich in dieser Welt noch gut genug?”.
Ein Kampf, der seinen Ursprung vor allem in verdrängtem Schmerz hat.
Ein kollektives Trauma
Die Manosphere - wie auch toxische Männlichkeit - ist aus meiner Sicht ein Symptom für tiefe emotionale Verletzungen. Für Schmerz, der nie wirklich gefühlt, sondern immer nur weitergereicht wurde. Von Vater zu Sohn, von Generation zu Generation. So entstand ein Kreislauf, der sich selbst nährt. Kriege und Gewalt sind für mich immer wieder ein Ausdruck dieses kollektiven Schmerzes.
Die allermeisten Männer durften nie erfahren, was emotionale Sicherheit bedeutet. Wie es sich anfühlt, einfach nur da sein zu dürfen. Sie wurden von Vätern erzogen, die Gewalt erlebt haben. Und auch ihre Väter haben diese Gewalt erlebt. Oftmals in noch brutalerer Weise. Ihre würde wurde verletzt. Immer und immer wieder.
Niemand konnte sich diesem Vorgang entziehen.
Der verlorene Kontakt
Dabei entstanden tiefe Wunden, die nie angeschaut oder gehalten wurden - sondern zugedeckt. Durch Härte, Kontrolle, Dominanz. Wir können nicht effektiv über Feminismus sprechen, ohne diesen kollektiven Schmerz zu berücksichtigen. Denn er ist nicht weniger als eine tragende Säule des Patriarchats und einer der Gründe, warum es so schwer ist, es von außen zu verändern.
Fast alle Männer tragen diesen Schmerz in sich. Er beeinflusst ihr Verhalten aus der Tiefe. Gleichzeitig wurde ihnen nie gezeigt, wie sie ihn halten und integrieren können. Also greifen sie instinktiv zu dem, was sie kennen - Kontrolle.
Wenn heute jemand innerhalb oder außerhalb der Manosphere von „echten“ oder “wahren” Männern spricht, begegnen wir also einem Echo. Einem Echo all der Generationen, in denen Männer sich selbst nicht spüren durften - und dadurch den Zugang zu sich selbst verloren haben.
Wie tiefer Schmerz zu Härte wird
Wenn dieser innere Zugang verloren geht, dann passiert etwas grundlegendes. Jetzt wird nicht mehr gefühlt, sondern kompensiert. Jetzt versuchen wir, vor unserem Schmerz wegzulaufen, statt ihn zu halten. Wir beginnen, um uns herum Strukturen zu erschaffen, die uns ein Gefühl von Sicherheit geben. Manchen gelingt das durch Leistung, anderen durch das streben nach Macht. Wiederum andere kreieren menschenfeindliche Narrative. So entstehen mit der Zeit ganze Systeme.
All diese Verhaltensweisen haben aber eines gemeinsam: Sie sollen unsere Ohnmacht dämpfen und uns Halt vermitteln. Sie dienen dazu, unsere inneren Wunden zu betäuben. Verstecken statt fühlen. Kompensieren statt integrieren. Wir kennen keine Alternative. Und auch unsere Väter und deren Vätern kannten nie eine Alternative.
Wir müssen die notwendigen Fähigkeiten zur Bewältigung dieses Schmerzes erst entwicklen.
Denn dahinter steckt eigentlich eine ganz tiefe Sehnsucht.
Die Sehnsucht hinter dem Schmerz
Hinter all dieser Härte, all der Macht und all der Kontrolle steckt im Kern ein zartes, ur-menschliches Bedürfnis. Ein Bedürfnis, das nie gesehen, sondern oft von frühester Kindheit an vernachlässigt und mit Gewalt beantwortet wurde.
Es ist das Bedürfnis, sicher zu sein. Halt zu finden. Genug zu sein. Geliebt zu werden, ohne sich anstrengen zu müssen.
Dieses Bedürfnis ist so tief in uns verankert, so essenziell, dass es mir beim Schreiben die Tränen in die Augen treibt. Wir werden damit geboren. Und dann treffen wir oft auf ein Umfeld, das nicht fähig ist, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Denn hier hat auch niemand gelernt, wie das geht. Hier fühlt man sich selbst hilflos und ausgeliefert, also versucht man, zu kontrollieren. Notfalls, mit Gewalt. Das ist menschlich.
Wenn ich mir vor Augen führe, wie viel Gewalt mein Vater erlebt hat, und wie viel Gewalt sein Vater erlebt hat, dann verstehe ich viel besser, woher viele unserer aktuellen Probleme kommen. Es ist kein persönliches Versagen, keine Boshaftigkeit. Sondern die direkte Folge von innerer Ohnmacht, Scham und Schmerz, die diesen Kreislauf aus Verdrängung, Macht und Kontrolle immer wieder von neuem anheizen.
Neue Männlichkeit als Reifeprozess
Genau hier kommt eine revolutionäre Form von Männlichkeit ins Spiel, die es bisher noch kaum gibt. Ich nenne sie “neue Männlichkeit”. Darunter verstehe ich Menschen, die gelernt haben, sich selbst zu halten, statt vor ihrer Innenwelt wegzulaufen.
Wenn wir beginnen, unseren kollektiven Schmerz zu fühlen, ihn integrieren - ohne ihn zu bekämpfen - öffnen wir die Tür zu einer reiferen Form des Miteinanders. Dann verlieren Manosphere, Patriarchat und all die anderen Formen toxischer Männlichkeit langsam aber sicher ihren Boden. Dann entsteht etwas, das tiefer ist als Härte, stärker als Kontrolle und mächtiger als Dominanz.
Neue Männlichkeit sucht nicht nach Macht über andere, sondern echte Begegnung. Sie kontrolliert nicht, sie vertraut. Sie ist verletzlich. Sie entsteht dort, wo Männer sich erinnern, dass sie fühlende Menschen sind - mit Ängsten, Wunden und Sehnsüchten. Dann werden wir von traumatisierten Jungs, die durch Gewalt geprägt wurden, zu reifen Menschen, die diesen inneren Schmerz und all die Kompensation für ihn hinter sich lassen können. Schritt für Schritt.
Ich widme meine Arbeit der Entwicklung dieser Fähigkeiten bei Männern und männlich gelesenen Menschen. Denn ich halte diese Vision für möglich. Ich habe es selbst erlebt. Wir können lernen, unser Inneres zu halten. Mit allem, was da ist. Dann durchbrechen wir den Kreislauf aus Gewalt, Schmerz und Verdrängung und bereiten den Boden für eine neue Gesellschaft.
Der Weg ist nicht einfach und erfordert Mut, aber er lohnt sich.
Denn dadurch verändern wir nicht nur uns, sondern die ganze Welt.