Warum ich kein Experte mehr sein will

Zu sehen ist ein großes Regal voller gleichgroßer brauner Schubladen mit Etiketten

Es gibt Themen, die so tief in unser Leben eingewoben sind, dass es fast rebellisch wirkt, sie klar zu benennen. Heute geht es um eines dieser Themen. Ich möchte mit dir teilen, warum ich mich vom Bild des Experten gelöst habe und mich fortan als ganzer Mensch zeigen will. Dahinter steckt ein tiefer und intensiver innerer Prozess.

Ich habe lange gebraucht um zu verstehen, dass ich niemandem etwas beweisen muss. Dass ich keine Rollen oder Etiketten brauche, um wertvoll zu sein. Diese Erkenntnis war für mich nicht nur beruflich, sondern vor allem menschlich ein echter Befreiungsschlag. Daraus ist dieser Text entstanden - ihn zu verfassen war eine große Herausforderung und mir ist bewusst, dass er stellenweise anspruchsvoll ist. Auch die Veröffentlichung kostet mich einiges an Mut. Denn wir stellen jetzt eine ganz grundlegende gesellschaftliche Ordnung in Frage.

Vielfalt und Lebendigkeit

Lass uns dafür zunächst einmal in unsere tägliche Erfahrungswelt eintauchen. Vielleicht kennst du das Gefühl nicht reinzupassen, nicht zu funktionieren, dich verstellen zu müssen, damit du geliebt und anerkannt wirst. Vielleicht machst du die Erfahrung, dass die Welt nicht für dich und dein einzigartiges Wesen gebaut ist. Vielleicht fühlst du dich falsch in deiner Rolle. Vielleicht findest du in den Schubladen unserer Gesellschaft keine Heimat. Ich kann dir sagen: du bist nicht alleine. Viele Menschen machen diese Erfahrung täglich. Auch ich passe nicht in diese Welt aus fixen Rollenbildern, festen Strukturen und unflexiblen Bezeichnungen. Habe ich noch nie und werde ich auch nie.

Ich war in meinem Leben schon vieles. Ich begann als Kind, Sohn, Enkel und Bruder. Ich wurde Schüler, Freund, Nachbar und Kamerad. Ich entwickelte mich zu einem Studenten, Partner, Mitbewohner und Gefährten. Ich erwarb einen Titel als Arzt, Yogalehrer, Trainer und Berater. Ich lebte mich kreativ aus als Musiker, Sänger, Autor und Fotograf. Ich entdeckte meine Leidenschaft als Sportler, Wanderer, Reisender und Drohnenpilot. Nach Feierabend wurde ich zum Hausmeister, IT-Techniker, Gärtner und Mechaniker.

All das sind Anteile, die eine große Rolle in meinem Leben spielen oder gespielt haben. Diese Anteile sind Wellenartig aktiv und wechseln sich zyklisch ab. Wie Ebbe und Flut. Mal steht der Musiker im Vordergrund, mal der Autor. Mal zeigt sich der Drohnenpilot, mal der Reisende. Diese Anteile gehören alle zu mir. Dahinter steht der unbändige Drang Neues zu erkunden, und mit der Welt in Kontakt zu sein. Das passt auch ganz gut zur Funktionsweise der Natur: Alles besteht aus lebendiger, kreativer Vielfalt.

Kisten und Schubladen

Nur gibt es da ein gewichtiges Problem: Unsere Gesellschaft tut sich aktuell schwer mit einem nonlinearen Dasein. Mit Vielfalt. Mit Sowohl-Als-Auch. Denn wir sollen uns einsortieren und etikettieren. Wir sollen in Schubladen passen. Wir sollen funktionieren. Das gibt uns ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität.

Die Stimme unserer Eltern sagt:

“Leg dich fest. Entscheide dich. Zieh eine Sache durch, für den Rest deines Lebens.”

Der Coach auf Instagram sagt:

”Du musst dich Spitz positionieren. Für eine Sache stehen. Sonst nimmt dich niemand ernst.”

Die Partei im Bundestag sagt:

”Du musst dich schon entscheiden - Mann oder Frau? Dazwischen und außerhalb gibt es nichts.”

Damit reduzieren wir die lebendige Vielfalt des Lebens auf feste Begriffe und rigide Konzepte. Wir sortieren ein, in Kisten und Schubladen. Wir labeln, wir etikettieren.

Daran ist erst einmal nichts falsch. Schubladen und Kategorien helfen uns dabei, unsere Umwelt zu verstehen und in ihr wirksam zu werden. Es wäre unmöglich, einen Herzinfarkt richtig zu therapieren, ohne vorher eine Diagnose zu stellen und das physiologische Geschehen damit klar einzuordnen. Und natürlich ist es schön, wenn man sich einer klaren Gruppe zugehörig fühlt. Nur was, wenn man zu denen gehört, die sich darin eingeengt fühlen?

Was tun wir, wenn kein Etikett zu uns passt?

Expert:innen und Expertise

Kommen wir jetzt zum eigentlichen Thema des Artikels: Warum ich kein Experte sein möchte. Zunächst: Expert:innen sind wichtig und Expertise ist etwas wundervolles. Es kann zutiefst bereichernd, fast magisch sein, richtig gut in einem Fachgebiet zu werden. Es gibt wenig schöneres, als einem begabten Pianisten beim Spiel zuzusehen oder einer talentierten Chirurgin bei der Schnittführung. Expertise ist wertvoll und notwendig, um eine bestimmte Aufgabe erfüllen zu können. Sie ist etwas lebendiges und entsteht durch Erfahrung, Neugier, Scheitern und Aufstehen.

Der Begriff “Expert:in” hingegen ist etwas festes, rigides. Eine klare Defintion. Im Expertentum ist alles festgelegt. Unser Fachgebiet, unsere Fähigkeiten, unsere Möglichkeiten und auch unsere Begrenzungen. Wir bewegen uns in einer Rolle. Man erwartet von uns, dass wir auf unserem Gebiet alles wissen – oder zumindest so tun als ob. Dass wir Sicherheit ausstrahlen, auch wenn wir gerade zweifeln. Dass wir klare Antworten geben, auch wenn wir sie selbst noch suchen.

Das reduziert uns zuweilen von einem vielschichten Menschen auf eine Funktion. Dahinter steckt wieder das Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung. Experten bieten uns ein Gefühl von Klarheit in einer unübersichtlichen Welt. Ein Experte steht für etwas Festes. Für Gewissheit.

Doch genau darin liegt auch die Gefahr: Wenn wir beginnen, uns selbst auf eine Funktion zu reduzieren, verlieren wir langfristig unsere Beweglichkeit. Unsere Dynamik. Unsere Neugier. Denn kein Mensch ist nur eine Rolle oder ein Fachgebiet. Wir sind vielschichtig, wandelbar, voller Widersprüche und Potenziale. Wenn wir uns auf das Bild des Experten festlegen lassen, schränken wir uns ein.

Ich fühle mich schon länger unwohl damit, ein “Experte” zu sein. Es ist, als ob ich in einer zu engen Jacke stecken würde. Ich möchte mich frei entwickeln dürfen, statt in einem Konzept festzustecken. Ich will lernen, forschen, erkunden - ohne feste Zuordnung. Ich will mich dir in meiner Ganzheit zeigen - auch im Wachstumsprozess, den ich gerade durchlebe.

Deshalb strebe ich tiefe Expertise an, aber verzichte zukünftig darauf, mich als „Experte“ zu bezeichnen.

Fazit

Ich habe mich dazu entschieden, künftig nicht mehr als „Experte“ aufzutreten - nicht, weil ich meine Fähigkeiten oder meinen Wert infrage stelle, oder weil Expert:innen etwas schlechtes wären, sondern weil ich mich als ganzer Mensch zeigen möchte. Mit all meinen Facetten, Zweifeln, inneren Kämpfen, Wachstumsprozessen und Widersprüchen.

Ich glaube daran, dass wahre Kompetenz nicht nur in festen Rollen oder Etiketten steckt, sondern vor allem auch in der Bereitschaft, immer wieder zu lernen, zu wachsen und den Kurs zu korrigieren. Mit einer offenen und aufrichtigen Haltung. Deshalb möchte ich dich zum Abschluss dieses Artikels zu einem kleinen Wagnis animieren: Vielleicht findest du den Mut, dich künftig etwas mehr außerhalb von Schubladen zu sehen und dich als das vielschichtige Wesen zu erkennen, das du bist. Denn nur so kann aufrichtige Begegnung entstehen.

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